Montag, 12. Dezember 2016

Die Katze als Lehrmeister - Chinesisches Märchen

Die Katze als Lehrmeister 
Vor langer Zeit hauste in einem Gebirge ein Tiger, der zwar sehr stark war, aber von Geburt an etwas plumpe Füße hatte. So kam er nur sehr schwerfällig voran und konnte nur wenig Beute machen. An einem schönen Sonnentag, an dem alle Tiere schon längst aufgestanden und auf die Jagd gegangen waren, kam der Tiger aus der Höhle gekrochen. Wie er so mit seinen plumpen Füßen daherstapfte, sah er ein Kätzchen sehr gewandt über die Berge klettern. Der Tiger erblasste vor Neid. "Mit solchen Kletterkünsten", so sagte er bei sich, "könnte man jeden Tag fette Beute machen! Und wie schnell dieses Kätzchen ist! Da entkämen mir nicht mehr viele Tiere. Ich würde alle auffressen, die mir jetzt mühelos davon laufen!"

Die Katze war inzwischen etwas näher heran gekommen und betrachtete aus einiger Entfernung die schwerfälligen Bewegungen des Tigers. Dieser verbeugte sich tief und sagte: "Meister Katze, ihr lauft behände und schnell die Berge hinauf und hinunter. Könnte ich nicht bei euch in die Lehre gehen? Ich möchte diese Künste gerne erlernen."
Das Kätzchen hatte schon gehört, dass der Tiger ein böses Herz hatte und sagte Kopf schüttelnd: "Mein lieber Tiger, wenn du alles von mir gelernt hast, das Klettern und das Jagen, was wirst du dann wohl tun? Ich weiß nicht, ob du ein dankbarer Schüler sein wirst!" Das Kätzchen überlegte sich, dass es sein Leben kosten könne, wenn es alle seine Fähigkeiten und Kunstgriffe dem Tiger beibrächte. Der Tiger aber verlegte sich aufs Bitten und ließ nicht locker: "Meister Katze, ich werde euch als meinen verehrten Lehrer dann stets beschützen. Wehe dem, der dann wagen sollte, euch anzugreifen oder auch nur zu beleidigen. Mein ganzes Leben werde ich euch dann verbunden sein und euch meinen Dank bezeigen. Ich bitte euch inständig, lehrt mich die Kletterkünste und den Schnelllauf!"
Diese Schmeichelei zerstreute die Bedenken des Kätzchens doch weitgehend. Der Tiger erschien dem Kätzchen nun doch mehr ungeschickt als böse, und so sprach es zu ihm: "Wenn du mir schwören willst, später niemals Gutes mit Bösem zu vergelten und meine Künste nicht gegen mich selbst zu verwenden, dann kannst du in meine Lehre eintreten." Der Tiger verbeugte sich tief, wedelte dabei mit dem Schwanz und sagte mit ergebungsvoller Stimme: "Nie werde ich eure Wohltat vergessen. Lehret mich, die Berge zu erklettern und Beute zu machen. Sollte ich jemals, verehrter Lehrer, etwas Böses gegen euch im Schilde führen, dann soll im gleichen Augenblick der Blitz mich treffen, oder ich soll in eine tiefe Schlucht stürzen und mein Leib in tausend Stücke zerrissen werden!" Dieser schwur beruhigte die Katze und sie nahm den Tiger als Lehrling an.
Die Lehre für den Tiger war zwar hart, aber vortrefflich. Der Lehrmeister scheute keine Mühe, seinem Lehrling alles beizubringen, was zu einer erfolgreichen Jagd in den Bergen gehört. Kaum war die Sonne hinter den Bergen aufgegangen, waren die beiden schon im Gelände, und sie übten noch in der Dunkelheit, wenn die Vögel längst schlafen gegangen waren. Der Lehrmeister hatte nach einiger Zeit seinem Schüler alle Geschicklichkeiten bis auf eine einzige gezeigt und wollte die Lehre bald für beendet erklären. Der Tiger war gut voran gekommen und war zu einem geschickten Jäger geworden.
Eines Tages aber warf der Tiger doch ein gieriges Auge auf das Kätzchen. "Es wäre doch ein feiner Braten", sagte er zu sich selbst und der Speichel lief ihm im Maul zusammen.
Das Kätzchen aber hatte seinen Schüler allmählich auch sehr gut kennen gelernt und las ihm die bösen Gedanken von den Augen ab. Zum Tiger gewandt, sagte das Kätzchen darauf hin mit feierlicher Stimme: "Mein lieber Schüler, du warst sehr folgsam und gelehrig. Alles, was ich selber kann, habe ich dir beigebracht. Unsere Wege trennen sich jetzt wieder. Denke daran, was du einstens geschworen hast!" Der Tiger war schon ganz von seinen bösen Gedanken ergriffen und fragte scheinheilig mit freundlicher unterwürfiger Stimme: "Meister Katze, habt ihr mir auch alle Griffe und Kunststücke beigebracht?" "Alles habe ich dir gezeigt", sprach das Kätzchen, das in den Augen des Tigers die böse Gier sitzen sah.
Der Tiger wollte nun eine List anwenden und sagte mit zusammengekniffenen Augen: "Meister Katze, seht mal, was klettert denn da über uns auf den Baume?" In dem Augenblick, in dem das Kätzchen den Kopf hob, setzte der Tiger zum Sprung an und stürzte sich mit ausgestreckten Krallen auf das Kätzchen. Da aber hatte der Tiger sich verrechnet. Gerade, als er glaubte, den Braten schon in den Pfoten zu halten, fuhr wie der Sausewind etwas in den Baum hoch. Der Tiger sah nach oben. Auf dem höchsten Aste saß zornbebend das Kätzchen.
"Du elender Verräter", rief es von oben herunter, "du undankbarer Geselle! So viel gelten dir Schwur und Versprechen! Zum Glück war ich noch schlauer als du und habe dir nicht gezeigt, wie man auf Bäume klettert. Wäre ich so dumm auch noch gewesen, hättest du mich gar zerrissen und aufgefressen, du Schurke. Pfui!"
Der Tiger war wütend und umkreiste knurrend den Baum. Er versuchte, auf den ersten Ast zu springen, aber er kam nicht so hoch hinauf. Er biss mit den Zähnen in die Rinde, aber alles war vergebens. Das Kätzchen sah die hilflosen Versuche des Wüterichs von oben herunter mit Gelassenheit an und strich sich ruhig den Schnurrbart. Dann sprang es von einem Baum zum anderen und versetzte den Tiger dadurch in noch größere Wut. Er war hilflos, seine bösen Absichten halfen ihm nichts; es fehlte ihm die Fähigkeit, auf Bäume zu klettern.
Das Kätzchen verschwand schließlich ganz aus seinen Blicken im dichten Laub der Baumkronen und der Tiger musste sich knurrend in seine Höhle zurück ziehen.
 

19 Kommentare :

  1. Guten Morgen, Irmi!
    Ich habe die Morgenlektüre genossen. Dank dir!
    Astrid

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  2. Guten Morgen, meine liebe Irmi,
    danke für diese wunderschöne und lehrreiche Geschichte! Auch mich hast Du damit zum schmunzeln gebracht :O)
    Hab einen guten Start in eine schöne und stressfreie 4. Adventswoche!
    ♥ Allerliebste Grüße ,Deine Claudia ♥

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  3. Liebe Irmi,
    das ist ein sehr schönes Märchen. Danke für die Veröffentlichung.

    Viele liebe Grüße
    Wolfgang

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  4. Danke für die Geschichte.
    Herzlichst
    yase

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  5. noch ein unbekanntes Märchen für mich Irmi DANKE
    mit einem Lg zum Wochenstart vom katerchen

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  6. Liebe Irmi
    was für ein tolles lehrreiches Märchen dankeschön!
    Ich wünsche dir einen schönen Start in die neue Woche!
    Lieben Gruss Elke

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  7. Moin liebe Irmi,
    eine wunderschöne Geschichte - danke dafür.
    LG Helga

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  8. Liebe Irmi
    Eine wundervolle und lehrreiche Geschichte. Wo findest du die nur immer. Vielen Dank für's teilen.
    Liebe Grüsse
    Barbara

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  9. Servus Irmi,
    als Lehrer war ich immer bemüht mein Wissen und Können weiter zu geben - aber ganz ehrlich, so einige "Kniffe" habe ich auch manchmal für mich behalten ;-))
    Schönen Tag und eine gute Woche,
    Luis

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  10. Liebe Irmi!
    Ja, so kann es gehen. Wie man sagen würde:
    Undankbarkeit ist aller Laster Anfang...

    Lieben Gruß von Alison

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  11. Liebe Irmi,
    was für eine feine und interessante Geschichte!
    Guten Wochenstart
    herzlichst moni

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  12. Liebe Irmi,
    das war ein schöner Start in die Woche . Danke !
    Ich wünsche dir eine schöne vierte Adventswoche.
    LG
    Käthe

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  13. katzengeschichten mag ich doch immer!
    liebe grüße in deinen tag

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  14. Liebe Irmi, wie schön ist es in einer Geschichte abzutauchen ;).
    Liebe Grüße!

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  15. Zum Glück hat das Kätzchen trotz aller Schmeicheleien nicht alle Kniffe verraten. Die Geschichte gibt mir zu denken.
    LG
    Ganga

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  16. Hallo Irmi,
    und was lehrt uns die Geschicht - trau einem listg´gem Tiger nicht?
    Alles preiszugeben kann manchmal ein Fehler sein.
    LG Heidi

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  17. Hallo liebe Irmi,
    was eine schöne Gesichte, die kannte ich noch gar nicht.
    Tja, man sollte immer ein kleines Geheimnis für sich behalten... Undank ist der Welten Lohn.

    Eine schöne Woche wünsche ich Dir...
    Liebe Grüße
    Biggi

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  18. Liebe Irmi, danke für diesen stimmungsvollen Post. Eine wundervolle Adventszeit wünsche ich Dir von Herzen!
    glg Susanne

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  19. liebe Irmi, also..
    als ich diese deine Fremdgeschichte las, musste ich doch ein klein wenig schmunzeln, vortrefflich erzählt und nun wissen wir, warum die Katze vor dem Tiger kommt, sie ist
    irgendwie doch
    schlauer als er..:))
    eine wunderschöne Geschichte aus dem "alten China?
    wie auch immer, ein klein wenig Grausamkeit ist in alten Märchen immer dabei, sonst würden wie sie nicht lesen, es macht sie wahrscheinlich etwas "spannender"...
    ich hab sie gerne gelesen, sie ist schön erzählt..
    dir noch eine frohe Adventszeit in der es so viel Freude macht
    Geschichten der unterschiedlichsten Art zu erzählen und vorzulesen..
    herzlichst Angelface...
    (du siehst, ich blättre gerne bei dir...;-))

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Ich freue mich über jeden Kommentar und möchte mich auf diesem Weg recht herzlich dafür bedanken. Kommentare sind wie das Salz in der Suppe. Ohne fehlt sehr viel.