In meiner Jugend habe ich seine Schriften geliebt - wie auch viele andere. Heute sieht man ihn in einem anderen Licht.
(Foto Pixabay)
Friedrich
Nietzsche, das ist der Philosoph mit dem Schnauzbart. So inszenierte er
sich auf den Fotografien, die überliefert sind. Mit wuchernder
Haarpracht mitten im Gesicht wollte er der Nachwelt in Erinnerung
bleiben. Dieses eine, immer wieder variierte und auf merkwürdige Weise
gleichsam alterslose Konterfei des Denkers prägt die Wahrnehmung bis
heute. Was aber wollte der Philosoph uns Nachgeborenen mit dieser
Selbststilisierung übermitteln: seine Radikalität, seine Männlichkeit,
seine Entschlossenheit oder – kompensatorisch – seine Schüchternheit?
Wer
so fragt, muss die Pointe verfehlen. Nietzsche war ein Meister des
Hinterfragens, das er selbst einmal als besondere Kunst des Lesens
charakterisierte: «Bei allem, was ein Mensch sichtbar werden lässt, kann
man fragen: was soll es verbergen?» Indem Nietzsche das eine Gesicht
zur Schau stellte, versteckte er hinter seinem Schnauzbart die vielen
Gesichter, die er in seinen Schriften vor seinem Publikum ausbreitete.
Nietzsche als Virtuose der Masken, des Spiels, des Experiments – als
feiner Ironiker, der seine Leser ebenso herausfordert wie sich selbst:
Das ist der Nietzsche, der auch über hundert Jahre nach seinem Tod noch zu entdecken bleibt.
Zu Lebzeiten ein nahezu Unbekannter, hatte Nietzsche nach seiner
geistigen Umnachtung im Jahre 1889 nicht nur immer mehr Jünger, sondern
auch prominente Leser. Die meisten versuchten sein Werk um einen
zentralen Begriff zu gruppieren: Karl Löwith etwa um die ewige
Wiederkehr des Gleichen, Martin Heidegger um die Lehre des Willens zur
Macht, Gilles Deleuze um Nietzsches Typologie der Figuren, vom Sklaven
über den Priester bis hin zum Übermenschen. Doch sie alle scheiterten
auf ihre Weise, denn Nietzsche lässt sich nicht systematisieren. Seine
angeblichen Lehren sind in Sommers Sichtweise nichts anderes als
«intellektuelle und existenzielle Experimente», die dieser unablässig
auf ihre Wirkung hin prüfte. Und die Wirkung war bemerkenswert.
Nietzsche hatte recht, als er in späten Jahren einmal schrieb, er sei
kein Mensch, sondern Dynamit.
Sommer, als
Herausgeber des kritischen Nietzsche-Kommentars der Heidelberger
Akademie der Wissenschaften zweifellos einer der besten Kenner der
Materie, verwirft die in Handbüchern übliche Einteilung in verschiedene
Denkperioden. Vielmehr zeigt er, wie Nietzsches Gedanken seit jungen
Jahren um dieselben Themen kreisen. Stets geht es um philosophische
Selbstreflexion, die das eigene Ich zum Inhalt hat, um Kritik am
Christentum, um ein Lob des Mythos, um die Diagnostizierung einer
kulturellen Krise der Gegenwart, um eine Zurückführung alles Seienden
auf das Gewordensein, um einen Vorrang des Kulturalismus über jede Form
von Materialismus oder Metaphysik.
Seine Karriere
als öffentlicher, wenn auch zunächst nicht gerade
öffentlichkeitswirksamer Intellektueller begann mit seiner
Philologie-Professur 1869 in Basel im zarten Alter von 25 Jahren. Kaum
hatte er sein Studium beim grossen Philologen Friedrich Ritschl in
Leipzig abgeschlossen, wurde er nach Basel berufen – dank Ritschls
Vermittlung, doch ohne Promotion. Nietzsche fühlte sich nie wirklich
wohl in Basel. Bereits 1876 nahm er ein Jahr Urlaub, und 1879 quittierte
er den Dienst, wobei ihm eine Pension in der Höhe von zwei Dritteln des
Professorengehalts zugesprochen wurde. Damit liess sich leben – und
reisen. Nietzsche liess fortan alles Akademische hinter sich. Er wurde
zum philosophischen Grenzgänger und Könner der aphoristischen Form.
Sommer
zeichnet mit viel Witz nach, wie Nietzsche sich als eine Art
Fortsetzungsschriftsteller betätigte. 1878 legt er mit «Menschliches,
Allzumenschliches» ein Werk vor, das kaum rezipiert wird – im ersten
Jahr werden bloss 120 Exemplare verkauft. Er plant Neuauflagen mit neuen
Anhängen und Vorworten, daraus gehen neue Werke hervor, die ebenfalls
Ladenhüter bleiben. Von der «Morgenröte» über die «Fröhliche
Wissenschaft» bis hin zu «Also sprach Zarathustra» und «Jenseits von Gut
und Böse» – Nietzsche probiert immer wieder neue Denkexperimente und
Schreibstile aus, denen der kommerzielle Erfolg versagt bleibt. Halbwegs
erfolgreich ist erst das im Jahre 1888 erschienene Buch «Der Fall
Wagner», in dem er mit dem einst verehrten Musikgenie abrechnet. Dieser Umstand
dürfte Nietzsche nicht nur wegen des Inhalts gefreut haben, denn das
Werk hatte er auf eigene Rechnung publiziert.
Zehn Jahre
lang schreibt Nietzsche unentwegt, und stets geht es um Alles oder
Nichts, um die ersten und letzten Dinge. Er macht sich lustig über die
grossen Begriffe wie Wahrheit, Gott und Gerechtigkeit. Doch will er
nicht als Erkenntnistheoretiker deren Inexistenz beweisen, sondern als
Ironiker zeigen, wie langweilig, unnütz und sinnlos der Glaube daran
ist. Zugleich formuliert er in einer philosophischen Gegenbewegung
eigene Mythologeme wie die «ewige Wiederkehr des Gleichen» oder die
«Umwertung aller Werte», um so die entstandene Lücke zu füllen. Er
propagiert sie allerdings nicht im Sinne metaphysischer Lehren, sondern
als neue fiktive Deutungsangebote, zu denen er sich selbst und seine
Leser verführen will.
Nietzsche
hat die neuen Philosophen einmal als «Versucher» charakterisiert, als
jene, die Versuche wagen und in Versuchung führen. Darin besteht nach
Sommer Nietzsches Novum. Er ist kein Metaphysiker, sondern ein Spieler.
Zu diesem Behuf erfindet er ein Schreiben, das sich seine Leser erst
erschafft. Er verfährt – je nach eigenem Gestimmtsein – appellierend,
mobilisierend und agitierend. Und jeder Leser darf sich nehmen, was ihm
passt.
Zuletzt ist
Nietzsche, der in seinen schriftlich fixierten Selbstgesprächen sich
auch selbst immer wieder überrascht und verführt, vollständig von sich
eingenommen. Der experimentelle Philosoph hat sich durch seine
Sprachspiele gewissermassen selbst hypnotisiert und ist zu seinem
eigenen Schüler geworden – er nimmt das Geschriebene für bare Münze. Das
ist zugleich der Moment, in dem er im Januar 1889 vom Wahnsinn
übermannt wird.
Andreas Urs Sommer zeigt in seinem ebenso
kundigen wie vergnüglichen Werk, warum der Philosoph mit dem Schnauzbart
zugleich er selbst war – und doch immer auch ein anderer gewesen sein
wird.
Es ist ein wirklich lesenswertes Buch, natürlich nur für den, der Nietzsche mag.
(Quelle: René Scheu von der Neue Züricher Zeitung)
Guten Morgen, liebe Irmi
AntwortenLöschendanke, ein sehr interessanter Beitrag, ehrlich gesagt,
habe ich mich nie mit diesem Literaten näher ausesinandergesetzt,
bis auf ein paar Zitate und Absätze seiner Werke und dass er vor seinem
Ableben unter Wahnvorsstellungen gelitten hat.
Ich wünsche dir einen gemütlichen, hoffentlich schmerzfreien Tag.
LG Sadie
Moin liebe Irmi,
AntwortenLöschendanke für Deinen lesenswerten Beitrag - damit habe ich mich noch nie brfasst :-).
LG Helga
Der Name ist vermutlich den allermeisten bekannt. Nur Details in der Intensität wie Du sie uns heute aufgeschrieben hast eher nicht. Ist auf jeden Fall interessant zu wissen :))
AntwortenLöschenDanke für´s zeigen
LG Heidi
PS weiterhin gute Besserung für Dich
So ein Zufall...ich hab mich in letzter Zeit mit Nietzsche sehr eingehen auseinandergestzt! Ich hab eine tolle Doku auch gefunden--seine Schwester hat ja da ihre Finger ganz schlimm im Spiel gehabt!
AntwortenLöschenMusst Du unbedingt gucken, falls Du es noch nicht kennst:
HIER
Meine liebste Irmi,
AntwortenLöschenich habe mich mit Nietzsche seit der Schulzeit nicht mehr befaßt. Danke für diesen doch sehr interessanten Beitrag, er hat mich neugierig auf dieses Buch gemacht ;O)
ღ Ich wünsche Dir einen schönen Tag mit ganz viel Glücksgefühl! ღ
♥ Allerliebste Grüße und einen festen Drücker,Deine Claudia ♥
Ach, wie schön, dass du wieder da bist, liebe Irmi. Du machst aber auch Sachen! Hoffentlich verschwinden die Beschwerden bald ganz. Ich hab auch immer einen Horror davor, es geht halt so schnell.
AntwortenLöschenÜber Nietzsche hatte ich noch nie etwas gelesen, mochte nur seine Gedichte. Danke, dass du nun auch diese Lücke füllst.
Er hielt am Schluss das Geschriebene für bare Münze. Da kenne ich genug, bei denen das ähnlich ist ... hihi.
Ein lieber Gruß zu dir und pass auf dich auf!!!
Andrea
Ja, einfach hat er es den Lesern nie gemacht und viele Denkanstösse ins Leben gerufen. Allerdings, alles ins Lächerliche zu ziehen, was manchem Menschen vielleicht viel bedeutet, finde ich persönlich auch nicht in Ordnung. Selbst ein so kluger Kopf wie er es war, dem hätte ein wenig Respekt vor dem Nächsten gut getan. Sein Ende ist ja nicht so schön, inwieweit die Schwester daran Teil hat, ist nicht ermittelt worden, dennoch, er ist imemr noch "in".
AntwortenLöschenLieber Gruß
von Edith
Liebe Irmi,
AntwortenLöschenNietzsche polarisiert bis heute!
Ich habe einiges von ihm gelesen. Natürlich ist man nicht mit allem einverstanden, was er gesagt/geschrieben hat, aber Dein toller Artikel über ihn erklärt doch vieles.
Angenehmen Tag und weiterhin gute Besserung,
herzlichst
moni
Danke für die ausführliche Information. Einen Spruch von ihm habe ich auf dem Blog: Keiner ist so verrückt, dass er nicht noch einen Verrückteren findet, der ihn versteht.
AntwortenLöschenLG Elke
Liebe Irmi,
AntwortenLöschenDanke für diesen Beitrag. Nietzsche ist und war für mich immer das "wahnsinnige Genie" - und das bitte in seiner positivsten
Ausführung. Vieles werden wir nie verstehen, hat doch er selbst mit seinem Leben auch keinen Frieden gefunden.
Liebe Grüße und für Dich weiterhin alles Gute und hab' eine, den Umständen entsprechende Zeit - Frühling wird's und der soll Dich erfreuen.
Herzlichst Elisabetta
Guten Abend liebe Irmi. Ich freue mich, dass du wieder da bist und hoffe, dass der Rest Schmerzen auch noch schnell verschwindet. Danke, dass du wieder bloggst.
AntwortenLöschenUnd was für ein Artikel! Den Namen kenne ich, aber ich habe mich noch nie so richtig beschäftigt mit ihm. Wüsste auch nicht, ob wir zu DDR-Zeiten in der Schule was über ihn gelernt haben.
Hab einen guten und hoffentlich schmerzfreien Abend.
Herzliche Grüße von Kerstin.